Am Samstag fand die „identitäre“ Demonstration in Berlin statt. Etwa 600-700 Neofaschist_innen reisten dazu an, mehrheitlich aus deutschen Städten. Jedoch kamen auch kleinere Delegationen aus anderen europäischen Staaten. Darunter waren, wie schon im letzten Jahr, einige Kader und Aktivist_innen aus Österreich. Die Anreise erfolgte zum Teil mit Privatautos, zum Teil per gechartertem Bus aus Wien, gemietet von Dr. Richard von Freitag Nacht bis Sonntag Vormittag.
Einige der Wiener Kader nahmen Aufgaben im Rahmen der Demoorganisation wahr, allen voran wenig überraschend Martin Sellner, der als Demoeinpeitscher Reden hielt und während der blockadebedingten mehrstündigen Stehzeit mit mäßigem Erfolg versuchte, die Teilnehmer_innen bei Laune zu halten. Auch Ingrid Weiss von den Wiener Identitären, korporiert bei der Mädelschaft Freya, hielt einen Redebeitrag. Bei der Strategiebesprechung der engsten Kader kurz vor dem (zuvor per Ansage vom Lautsprecherwagen implizit angekündigten) Durchbruchsversuch war neben Sellner auch IB-Wien-Leiter Philipp Huemer anwesend. Bemerkenswert ist aber auch das Fehlen einiger Kader: so waren weder der Co-Bundesobmann Patrick Lenart, noch die Landessprecher Luca Kerbl und Thomas Sellner vor Ort. Auch die Vereinsfunktionäre des Grazer Tarnvereins „für nachhaltige Völkerverständigung und Jugendarbeit“ Tino Taffanek und Peter Dingsleder wurden nicht in Berlin gesehen.
Die Demonstration hat auch einmal mehr die zentrale Rolle von Martin Sellner über die österreichische Organisierung hinaus gezeigt. Die formelle Anmeldung hatte zwar Robert Timm inne und die organisatorische Leitung oblag Daniel Fiß, dennoch verhandelte auch Sellner mit der deutschen Polizei und drohte in diesem Rahmen sowie auch über den Lautsprecherwagen mit der Auflösung der Demonstration, womit die Demoleitung „keine Verantwortung mehr für das Verhalten der Demoteilnehmer“ übernehmen würde. Zudem war er es, der vom Lautsprecherwagen aus dazu aufrief, sich die Straße zu nehmen, sollte die Polizei sie nicht frei machen und so zum Durchbruchsversuch anstachelte, der auch kurze Zeit später folgte. Die Rede folgte kurz nach der „versteckten“ Kaderbesprechung von u.a. Timm, Müller, Huemer und Sellner in einem nahen Hauseingang, weshalb stark davon auszugehen ist, dass der Beschluss dazu auch dort gefallen ist. Weiterhin augenscheinlich ist das gute Verhältnis der Gruppen aus Halle und Wien, die gemeinsam als tragende Kräfte der Demonstration gesehen werden können und zudem auch am aggressivsten auftraten und dabei u.a. Journalist_innen bedrohten.
Doch nicht nur „Identitäre“ im engeren Sinne reisten aus Österreich an. Auch der am Angriff auf eine Gewerkschaftsveranstaltung im Ernst-Kirchweger-Haus (EKH) beteiligte André Emmanuel Rauch war auf der Demonstration anzutreffen. Er hatte bereits bei der „identitären“ Demonstration im Juni 2016 in Wien den Demoschutz koordiniert und scheint der Gruppe zunehmend nahe zu stehen.
Für eine ausführliche Analyse der Demonstration verweisen wir auf den Artikel der Genoss_innen von Gesänge der Inhumanität sowie jenen des Störungsmelder. Die unserer Meinung nach zentralen Schlüsse aus der Demonstration in Berlin möchten wir jedoch hier noch einmal in aller Kürze festhalten:
*) Die „Identitären“ scheitern derzeit daran, ihre eigene Inszenierung als starke, junge, dynamische Bewegung einzulösen. Der von Sellner angedeutete Umbau in Richtung „patriotische NGO“ soll aus dieser ersten Krise herausweisen. Aktionen die auf Masse setzen floppen ausnahmslos, die Mitgliederzahlen stagnieren.
*) Kader der österreichischen „Identitären“ nehmen auch international eine führende Rolle ein. Dies in enger Koordination mit Kontrakultur Halle. Der Kreis, der die wichtigen Entscheidungen trifft, besteht ausschließlich aus Männern. Sellner ist auch in Deutschland als die zentrale Führungs- und Identifikationsperson zu sehen, was die Demo allzu deutlich gezeigt hat.
*) Die Demonstration in Berlin war personell ein Sammelsurium der gesamten extremen Rechten. Von Pegida bis zur NPD mobilisierten Gruppen dorthin, in der Hoffnung auf starken Ausdruck. Das verdeutlicht die zentrale Rolle der „Identitären“ für dieses Spektrum aber auch die allzu hohen Erwartungshaltungen, die früher oder später zu Enttäuschung führen müssen.
*) Die Medien spielen das Spiel der Neofaschisten nach wie vor zu großen Teilen mit, reproduzieren bildreich ihre Inszenierung und tragen sie durch alle Kanäle. Damit geben sie ihnen die Reichweite, auf die sie angewiesen sind. Die erste Reihe war wie gewohnt überlegt zusammengestellt, bestand im Gegensatz zur sehr männerlastigen Demo aus zumindest 50% jungen Frauen, im Hintergrund ein Fahnenmeer. Dieses Bild wollen sie von sich zeichnen, wer es bereitwillig abknippst und nutzt, fällt auf sie herein.
*) Die Kader hatten zunehmend Probleme, die Demonstration zu kontrollieren. Redebeiträge wurden phasenweise überschrien, der Aufruf zur Gewaltlosigkeit beim Durchbruchsversuch alles andere als eingehalten. Das zeigt neben organisatorischer Schwäche auch die hohe Aggressivität und Gewaltbereitschaft, die bei jeder Gelegenheit unter der Fassade des symbolisch-legalistischen Protests hervorbricht. Es wurde offen gedroht und provoziert, bezeichnenderweise hauptsächlich von Kadern und nicht etwa bloßen Sympathisant_innen.
Zur Übersicht haben wir die bisher bekannten Teilnehmenden aus Österreich zusammengestellt:
Identitäre aus Wien:
Identitäre aus den Bundesländern:
Der Artikel wird laufend ergänzt. Wenn ihr Informationen dazu habt, könnt ihr uns diese gerne – bevorzugt verschlüsselt – unter recherchewien@riseup.net zukommen lassen.
Sammlung aller öffentlichen Fotoalben, Videos und Tweets zum Naziaufmarsch am 17.06.17 in Berlin. Danke an die Genoss*innen von antifadoku.blackblogs.org für die ausführliche Zusammenstellung!